Die Flutkatastrophe im vergangenen Jahr hat im gesamten Ahrtal 134 Todesopfer gefordert. Zwei Personen werden immer noch vermisst. Die Verwüstung, die mit dem Sturzflut einherging, war verehrend. Über 5000 Gebäude in der Stadt Bad Neuenahr-Ahrweiler wurden stark beschädigt oder gar vollständig zerstört, die Infrastruktur im Ahrtal muss neu aufgebaut werden und viele Menschen haben sowohl physische als auch psychische Verletzungen erlitten.
In diesen Tagen jährt sich die Katastrophe zum ersten Mal. Aus diesem Grund lud die Stadt Bad Neuenahr-Ahrweiler nun zu einem Pressegespräch. Neben einem Blick auf die vergangenen zwölf Monate ging es Bürgermeister Guido Orthen, der den versammelten Pressevertretern gemeinsam mit dem Ersten Beigeordneten der Stadt, Peter Diewald, Rede und Antwort stand, insbesondere um die Perspektiven beim Wiederaufbau.
Die Vertreter der Stadt betonten die Dankbarkeit für die große Solidarität, die in der Hilfe unzähliger Menschen Gesicht bekommen hat. Hierzu zählt auch die Dankbarkeit für die Solidarität, die in der finanziellen Unterstützung des Wiederaufbau-Fonds des Bundes und der Länder ebenso wie im Einsatz zahlreicher Hilfsorganisationen zum Ausdruck kommt.
Rückblickend habe man mit dieser Hilfe schon viel erreicht. Bereits nach rund 5 Wochen war die Stromversorgung vollständig wiederhergestellt. Tausende Quadratmeter Gehwege und Straßen seien wieder provisorisch hergerichtet. Zahlreiche Brücken dienten aktuell als Provisorium zur Ahrquerung und weitere Maßnahmen hierzu stünden in Kürze an. Mit den Pop-Up-Malls werde wirtschaftliches Leben in der Stadt wieder ermöglicht und auch Feste finden wieder in regelmäßigen Abständen statt, wie beispielsweise die Uferlichter im Kurpark, die Wiedereröffnung der Römervilla und des Regierungsbunkers sowie die Weinfeste im Spätsommer und Kirmes im Oktober dieses Jahres. Trotz allem liege noch einen weiten Weg vor der gesamten Stadt. „Der Wiederaufbau der Stadt ist eine Mammutaufgabe, die uns noch über Jahre begleiten und sämtliche finanziellen und personellen Ressourcen vor Ort binden wird“, so Orthen.
Heute blicke man auf eine sehr dynamische Situation im Ahrtal. Die Arbeiten im privaten Bereich schreiten voran, einige Bürgerinnen und Bürger kehrten in ihre Häuser und Wohnungen zurück und auch die Gastronomie und Wirtschaft befände sich wieder im Aufschwung. Andererseits sei die Nachfrage nach den bereitgestellten Notunterkünften (Tiny-Houses & Containerwohneinheiten) nach wie vor hoch.
Aktuell lebe man zum Großteil in und mit Provisorien. Die öffentliche Infrastruktur basiert auf Übergangslösungen – es sei nach wie vor eine Ausnahmesituation im Ahrtal, die mit aller Kraft und starkem Zusammenhalt bewältig werden müsse. Die Gefühlslage der Menschen im Tal sei daher ernüchternd. „Antragsverfahren sind kompliziert, eben nicht bürokratiearm. Das zermürbt. Kraftlosigkeit und Enttäuschung sind spürbar, da die zugesagte Unterstützung gefühlt sehr langsam und nur mit viel Aufwand verbunden, zu erhalten ist“, bedauerte der Bürgermeister.
Es fehle überall an Schnelligkeit und vor allem einer unbürokratischen Hilfe – sowohl für die Privatpersonen als auch für die öffentliche Hand. „Das Bewusstsein für die besondere Situation im Ahrtal ist an vielen Stellen nicht (mehr) vorhanden. Vielmehr ist eine Rückkehr zu alten Verfahrens- und Bürokratiemustern zu beobachten, so dass wir den Eindruck haben, das der für den vor Ort herrschenden katastrophenbedingten Ausnahmezustand über die Grenzen des Tals hinaus nicht (mehr) wahrgenommen wird“, konstatiert Orthen. Hinzu komme der deutschlandweite Material- und Fachkräftemangel oder auch die Auseinandersetzungen mit Versicherungen – um nur zwei Beispiele zu nennen –, welche die Herausforderungen für den Wiederaufbau des Ahrtals noch erhöhe. Hinzu komme die Schwierigkeit der Nachweise bei Antragsstellenden. „Wie soll beispielsweise ein Gutachten für eine Maschine vorgelegt werden, wenn diese in der Flut von den Wassermassen mitgerissen wurde?“, fragt der Stadtchef.
Aktuell erhalten Privatpersonen Abschlagszahlungen in Höhe von 20% von der ISB. In NRW sind es 40%. Die Forderung auf Gleichsetzung wurde durch die Stadt bereits sehr frühzeitig an entsprechender Stelle angebracht. Eine eindeutige Rückmeldung haben die Stadt und die Menschen vor Ort bis heute nicht erhalten.
Des Weiteren fehle es an einer Lösung für das, in diesem Monat regelmäßig auslaufende, Kurzarbeitergeld. Im gesamten Ahrtal seien rund 1.300 Personen und rund 100 Betriebe von Kurzarbeit betroffen. Diese Menschen wissen nicht wie es in der Zukunft weitergehen soll. Entsprechende Gespräche und schriftliche Intervention zur Verlängerung des Kurzarbeitergeldes haben bereits vermehrt stattgefunden. Guido Orthen macht klar: „Wir sehen hier den Bund in der Pflicht, zeitnah den Betrieben und den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern eine Lösung zu bieten.“
Sodann richteten die Vertreter der Stadtverwaltung einen Blick in die Zukunft: Auch in den kommenden Monaten steht für die Stadt viel Arbeit und Veränderung an. Nach außen wahrnehmbar wird insbesondere die verstärkte Aufnahme von Baumaßnahmen sein. Beispielsweise der Ersatzneubau der Kindertagesstätte Blandine-Merten-Haus, der Wiederaufbau des Ahrtor-Friedhofs in Ahrweiler oder die Herstellung eines durchgehenden provisorischen Fuß- und Radweges entlang der Ahr. All dies soll und wird zeigen: es geht voran!
Zugleich werden in den kommenden Monaten hunderte Förderanträge an das Land gestellt werden müssen und in Abstimmung mit den politischen Gremien der Stadt sind zahlreiche weitere Grundsatzentscheidungen zu treffen: Wo soll die Feuerwehr Ahrweiler neu errichtet werden? Wie soll der Wiederaufbau der Parkanlagen angegangen werden und erhalten die Flächen zusätzliche Funktionen – etwa als innerstädtische Retentionsräume? Wie soll ein künftiges Verkehrskonzept der Stadt aussehen und wie ist hier die Radwegeplanung zu berücksichtigen? Und dies sind nur Beispiele.
Es wird aber auch darum gehen, wichtige Anliegen der Stadt in Richtung Kreis, Land und Bund zu transportieren, um die Rahmenbedingungen für einen erfolgreichen Wiederaufbau zu schaffen.
Folgende Punkte sind der Stadt – ein Jahr nach der Flut – besonders wichtig:
An erster Stelle steht das Thema Hochwasserschutz. Hier muss leider immer noch verdeutlicht werden, dass die Kommunen nicht in der Lage sein werden, den erforderlichen Hochwasserschutz zu realisieren. Selbst der Landkreis ist mit dieser Aufgabe völlig überfordert. Die Zuständigkeit für den Hochwasserschutz an der Ahr muss – mindestens für die vollständige Finanzierung der erforderlichen Maßnahmen – auf das Land übergehen. Es wurden bisher auf örtlicher Ebene unter Beteiligung des Landes kleine Schritte gemacht – aber eben nur kleine Schritte und leider auch nur sehr wenige. Das Land muss sich nun schnellstmöglich ein Herz fassen und eine Struktur schaffen, in der es selbst vorrangig verantwortlich für Finanzierung und Umsetzung von Hochwasserschutzmaßnahmen an der Ahr ist.
Auch bedarf es aus unserer Sicht Verbesserungen der Warnstrukturen und einer Reform des Katastrophenschutzes. Das betrifft Meldeketten, Frühwarnsysteme aber auch Zuständigkeiten. Bund, Land, aber auch die kommunale Ebene müssen den Menschen das deutliche Signal geben, dass aus den Erfahrungen des letzten Jahres gelernt wurde. Dazu gehören aus Sicht der Stadt mehr Pegelmessungen an der Ahr und ihren Zuflüssen, verbesserte Modellierungen (welche Niederschlags-/Pegelmessungen führen zu welchen Auswirkungen im bebauten Bereich), um Risiken besser spezifizieren zu können. Und wie können Warnsysteme und Kommunikationskanäle ergänzt und verbessert werden? Im Katastrophenschutz müssen zudem klare und eingeübte Strukturen geschaffen werden, um private Helferinnen und Helfer als festen Bestandteil der Katastrophenbewältigung einplanen und im Ernstfall schnell und zielgerichtet koordinieren zu können.
Wichtig ist zudem die Herstellung des Ahrufers. Und zwar unter Berücksichtigung der Belange des Hochwasserschutzes, der Gestaltung und der stadtplanerischen Funktion. Die Stadt ist sehr froh, dass sie zumindest für die innerstädtischen Abschnitte die Aufgabe zur Wiederherstellung des Ahrufers vom Landkreis übernehmen kann. Aber auch in den anderen Bereichen, für die der Kreis zuständig bleibt, muss es nun zügig voran gehen. Das sind die Bereiche, in denen auch im Stadtgebiet großflächig Retentionsraum geschaffen werden kann. Der Kreis ist nun gefordert, hier unter Berücksichtigung anderer Belange (touristisch, verkehrlich, gestalterisch) rasch Ergebnisse zu präsentieren und in die Umsetzung zu kommen.
Essenziell ist auch die zeitnahe Anpassung der Wiederaufbauvorschriften. Die rechtlichen Rahmenbedingungen sind in Teilen höchst bürokratisch und praktisch nicht umsetzbar. Die aktuell geltende Antragsfrist (alle Förderanträge müssen bis zum 30.06.2023 gestellt sein) ist bei den gegenwärtigen Anforderungen der Fördergeber schlicht nicht einzuhalten. Das Land Rheinland-Pfalz fordert hier für die meisten Aufbaumaßnahmen an der kommunalen Infrastruktur die Erarbeitung einer fertigen Entwurfsplanung mit entsprechender Kostenberechnung, bevor überhaupt ein Antrag gestellt werden kann. Dies verzögert die Möglichkeit der Antragstellung extrem und lässt die Kommunen über viele Monate und nicht selten bei „vorgestreckten“ Kosten im durchaus 6- bis 7-stelligen Bereich im Risiko. Die Antragsfristen müssen daher dringend, am besten bis zum 30.06.2026, verlängert werden.
Auch in der Frage, welche energetischen Standards beim Ersatzneubau von Gebäuden förderfähig sind, besteht dringender Nachbesserungsbedarf. Während der Phase des Wiederaufbaus wird der KfW-40-Standard voraussichtlich verpflichtend. Die daraus resultierenden Kosten müssen auch jetzt schon zuwendungsfähig sein. In den Vorschriften muss daher dringend klargestellt werden, welche energetischen Standards über den gesamten Förderzeitraum zuwendungsfähig sind. Das ist nur ein Beispiel dafür, dass aus Sicht der Stadt nicht Wiederaufbau, sondern ein Aufbau erforderlich ist, der erkennen lässt, dass aus den Erfahrungen gelernt wurde, dass Klimaschutz mitfinanziert wird.
Unbedingt vermieden werden muss außerdem, dass die Kommunen neben den Antragsverfahren beim Klimaschutzministerium (für Wasser-/Abwasser- und Gewässermaßnahmen), der Kreisverwaltung (für Schäden im Forst) und der Aufsichts- und Dienstleistungsdirektion (ADD) (für die allgemeine öffentliche Infrastruktur; z.B. Straßen, Brücken, Gebäude, Parkanlagen) nun auch noch Förderanträge bei der ISB stellen müssen, wenn die ADD bei einzelnen Aufbauprojekten ein unternehmerisches oder nur fiskalisches Handeln der Kommune sieht. Es muss sichergestellt werden, dass Schäden der Kommunen vollständig über die Aufbauhilfe für Kommunen reguliert werden.
Nicht zuletzt erachtet die Stadt verschiedene Änderungen im Bauplanungsrecht für unabdingbar, um unter Ausnutzung von beschleunigten Verfahren hochwassersichere Ersatzbauflächen für Wohnen, Gewerbe und gemeindliche Einrichtungen wie zum Beispiel Kindertagesstätten zu schaffen. Hier gibt es bislang eine Vielzahl von bauplanungsrechtlichen und fachgesetzlichen Hemmschuhen, die – mindestens für das Flutgebiet, ggf. auch befristet – beseitigt werden müssen. Hier sind Bund und Land am Zug, die Voraussetzungen für schnellere Verfahren zu schaffen.
„Ja, wir anerkennen den guten Willen und das politische Bemühen aller Beteiligten, weiter an der Seite des Ahrtals zu bleiben. Dieser gute Wille muss sich aber gerade in der Umsetzung und damit im Detail beweisen“, appelliert Bürgermeister Orthen anlässlich des ersten Jahrestages der Flutkatastrophe.